“Facebook statt Turnschuhe“1 , schrieb unlängst eine Zeitung. Internetsurfen, Computerspiele usw. und das mindestens einmal täglich, damit wachsen unsere Kinder heute auf. Alles das sei notwendig, um ein soziales Netzwerk aufzubauen, behaupten Experten. So mancher fragt sich nun, ob denn unsere Kinder noch Zeit haben zum Spielen - angesichts der Anforderungen, die die Schule, die Sportvereine, Musikgruppen, Jugendgruppen usw. stellen, angesichts des Überangebots an Spielzeug und angesichts der von früh bis spät laufenden Fernsehgeräte, der Videofilme, der Computerspiele …..2
Während eines Wandertages, bei dem wir uns auch über Kindsein einst und heute unterhielten, fragte ein Schüler fast mitleidvoll: “Ja war es in Ihrer Kindheit nicht stinklangweilig ohne Fernsehen, ohne Unterhaltungselektronik, ohne coole Computerspiele usw. ?”- “Nein, wir kannten kaum Langeweile“. Uns “gehörten” die Plätze und Gassen im Dorf, die Wiesen, Auen und der Wald. Die Jahreszeiten und die immer wiederkehrenden Feste gliederten unser Leben und regten die Spiellust an. Mit viel Fantasie wurde unsere Umgebung zu einem Entdeckungs-, Erholungs- und Spielparadies. Man konnte dem Bewegungsdrang freien Lauf lassen, Fantasie und Humor einbringen und seine Kräfte mit den Mitspielern messen.3 Mit den Kindern aus der Nachbarschaft bildete man eine große Spielgemeinschaft.
Im folgenden Artikel möchte ich einen bescheidenen Einblick in die “Spielelandschaft” der Nachkriegsjahre geben. Leider wurde damals wenig fotografiert. Es gab kaum Spielzeug in den Familien, höchstens da und dort ein Holzpferd, eine Puppenwiege, einen Ball, ein paar Bauklötze oder einen Matadorbaukasten. So musste man erfinderisch sein und selbst Spielsachen aus allen möglichen Materialien basteln. Auch viele Spiele dachten wir selber aus. Wie schön und abwechslungsreich war diese “Spielwelt”!
In der warmen Jahreszeit spielte man vor allem im Freien. Die Buben trieben ihre Reifen, meist ausgediente Eisenreifen von Holzfässern oder Wagenrädern, über die Dorfstraße oder auf den Plätzen herum oder fuhren auf alten Gummireifen den Gärberbach hinunter. Besonders Mutige wagten sich sogar in die Drau oder in den Bombentrichter, einem Überrest des Krieges, gegenüber der Asthöfe gelegen. Im Frühjahr, wenn es aper wurde, kamen die Kinder aus dem “Innermarktl” im Schulhof (östlich des alten Schul- bzw. Gemeindehauses) oder auf dem Marktplatz zum “Tempelhüpfen”, “Tatzen” oder “Dawischelatsspiel“ zusammen. Meistens machte man schon in der Schule mittels Zeichensprache Zeit und Treffpunkt für den Spielnachmittag aus. Mit den ersten Sonnenstrahlen holte man die “Tatzer” = Kugeln hervor, und in den noch feuchten Boden wurden “Gundeln” = flache Mulden gegraben, in die eine besonders schöne, meist gläserne Kugel gelegt wurde. Wer sie von der ein bis zwei Meter entfernten Ziellinie mit seinem “Tatzer” traf - dieser musste gerollt werden - durfte sie nehmen. Wenn sie von keinem der Mitspieler getroffen wurde, durfte ihr Besitzer alle “Tatzer” der Mitspieler kassieren.
Besonders beliebt waren die Versteck- und Fangenspiele z.B. im Wald oder hinter den Heuschobern sowie alle Arten von Ballspielen: Völkerball, Jägerball, “Mittelmandl abschießen”, 10 Bitten oder “Zehnerle”… Dabei ging es darum, fehlerlos und ohne den Ball fallen zu lassen, durch das Spiel zu kommen. Nach einem verlorenen Spiel war man oft böse auf die Gegner, aber der “Krieg” legte sich bald, spätestens beim Revanchespiel. Besonders beliebt waren die Geschicklichkeitsspiele wie das “Seilspringen” und “Stelzengehen”. Mit dem kurzen Seil konnte jeder für sich springen, mit dem großen Schwungseil sprangen mehrere Kinder gemeinsam. Fast alle Buben im Schulalter übten sich mit Pfeil und Bogen, bauten Steinschleudern, und besonders Geschickte schnitzten aus Weiden oder Eschenholz Maipfeifen. Die Mädchen spielten lieber mit Blüten und Blättern von Blumen und flochten daraus Kränze, Kronen und Körbchen. Margeriten und Gänseblümchen waren die “Orakelblumen”. Man zupfte die Blütenblätter der Reihe nach aus und sprach dazu: “Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden”. Das letzte noch übrig gebliebene Blatt entschied über die Zukunft.
Pausenspiele im Schulhof waren das “Tempelhüpfen” und das “Scherenschleifen”, bei dem Kinder aller Altersstufen mitmachten. Unterschiedlich und vielfältig waren die Spielarten des “Tempelhüpfens”. Das Spielfeld wurde mit Kreide oder einer Scherbe in den Boden gezeichnet.
Einen einzigartigen Spielplatz bot der Wald. Von Abenteuerlust “beflügelt”, waren der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Die Vielfalt der Formen und Farben verlockte zum Sammeln und Gestalten. Jedes Kind hatte “seinen Baum” und seine eigene “Landwirtschaft”. Um die Wurzeln der Fichten und Lärchen herum entstanden aus Rinden und Ästen Ställe, aus “Tschurtschen” allerhand Tiere. Mit verschiedenen Spielen, wie Fangen- und Verstecken Spielen, Tschurtschenschlachten, Kletterübungen, Räuber und Gendarm, Blinde Kuh, Der schlaue Fuchs u. a. verbrachte man die heißen Sommertage im kühlen Wald, wenn man nicht gerade zum Beerenpflücken oder Holzsammeln eingeteilt war.
An Regentagen oder in der kalten Jahreszeit boten Dachböden, Holzhütten oder Scheunen geeignete Spielplätze. Beliebt waren z. B. “Schatz suchen“, “Versteckelats“, ”Geister beschwören“, Ratespiele wie “gerade oder ungerade“,” Ich sehe, was du nicht siehst”, “Stille Post”, Pfandspiele u. a. Oft vertrieb man sich die Zeit mit Würfelspielen wie “Mensch ärgere dich nicht” oder Quartettspielen.. Matador war ein beliebtes Spiel für alt und jung.
Die so genannten Faden- oder Fingerspiele, die speziell größere Mädchen pflegten, konnten allein oder zu zweit ausgeführt werden. Man brauchte dazu nur einen ca. 1,50 m langen Faden und etwas Geschick. Gerne schlüpften die Kinder auch in die Rollen der Erwachsenen und versuchten sie spielerisch nachzuahmen: Familie, Doktor, Schule, Musikkapelle, verschiedene Handwerke… Ein Spiel verlief so: “Wir kommen aus dem Morgenland, die Sonne hat uns schwarz gebrannt, wir sehen aus wie Mohren und haben schwarze Ohren”. ”Zeigt euer Handwerk” entgegneten die anderen Spieler. Jeder zeigte nun ein Handwerk, das erraten werden musste. Für “Märchenspiele” wie Rotkäppchen, aufgeführt in der Veranda der Villa Dr. Kunater wurde 1 Groschen Eintritt verlangt. In der Zeit der hohen Festtage wie Fronleichnam, Patrozinium… spielten vor allem die Buben “Messe” mit Predigt und Prozession. Als Kanzel dienten eine umgedrehte Kiste oder eine Stadelauffahrt. Mit einem selbst gebastelten “Himmel“, mit Ministranten und Fahnen aus bunten Tüchern führte die Prozession durch den halben Ort. Oft waren um die 20 Kinder daran beteiligt. Eine Näherin war von dieser Idee so begeistert, dass sie sogar eigene Messkleider für Kinder fertigte. Diese wurden dann im Dorf an verschiedene Familien verliehen. Um Advent und Weihnachten bastelten viele Kinder “Opferhemdln” aus Papier. Man schnitt kleine Dreiecke hinein; für eine gute Tat durfte ein Dreieck geöffnet werden. Die “Opferhemdln” legte man am Heiligen Abend unter den Christbaum.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Gesellschaft verändert. Heute ist das Leben hektischer und der Spielraum knapper geworden.
Spiele mit vielen Beteiligten verschwanden; die Kinder ziehen sich lieber in ihre reich mit Spielzeug ausgestatteten Kinderzimmer zurück, und viele alte Kinderspiele fielen einem falsch verstandenen Modernisierungswillen zum Opfer.
1 Tiroler Tageszeitung: „Stress setzt jungen Österreichern zu“
2 Siehe: Doris Sauer: „ Der Letzte muss gefangen sein“, Trautenfels 2002
3 Siehe: „Kindheit in den 50-er Jahren“; Katalog zur Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum 2005
Text: Maria Huber- Wanner
Quellen: Woll,Merzenich, Götz :”Alte Kinderspiele”
“ Der Letzte muß gefangen sein” von Doris Sauer
Informationen aus der Bevölkerung
Fotos: Privatbesitz der Familien Niedertscheider, Klammer, Wanner;
Gemeinde Sillian;
Woll, Merzenich, Götz: “Alte Kinderspiele”
“Kindheit in den 50-er Jahren”, Tiroler Volkskunstmuseum, Innsbruck; Scans: Gerhard Holzer